Nach dem Gewinn des EM-Titels und ihrer wohl besten Saison als Para Kanutin möchte Anja Adler auch bei den Paralympischen Spielen in Tokio glänzen. Den letzten Feinschliff holt sie sich in der japanischen Abgeschiedenheit.
Hamburg – Naka – Tokio. Drei wichtige Orte für Anja Adler und zugleich die drei letzten Stationen auf ihrer „Road to Tokyo“ hin zu den Paralympics in Japan. Mit ihrer ersten Teilnahme an den Spielen geht für sie ein Kindheitstraum in Erfüllung, wie sie sagt. „Die Vorfreude ist riesig“, schwärmt die 32-Jährige. „Man merkt, dass es langsam ernst wird.“
Als der Deutsche Behindertensportverband sie unlängst offiziell für Tokio nominierte, sei ihr Puls schon heftig in die Höhe geschnellt. „Das war ein toller Moment, den eigenen Namen zu hören. Da realisiert man erst richtig, dass man als Athlet dabei ist. Das war Gänsehaut pur, denn ich wusste: Jetzt kann das große Abenteuer beginnen“, erklärt Adler. „Dass ich Deutschland bei den Spielen vertreten darf, ist ein unglaubliches Gefühl. Ich muss sagen: Es kribbelt ganz schön.“
Die Sportlerin des SV Halle kann es kaum erwarten, endlich die japanischen Gewässer unsicher zu machen. Die unmittelbare Wettkampfvorbereitung ist in vollem Gange. Das heißt für Anja Adler: Trainieren, Essen, Schlafen – alles ist den Paralympics untergeordnet. „Ich bin in meiner Bubble angekommen“, entgegnet sie lächelnd.
Bereits seit Ende Juli ist Adler mit der Nationalmannschaft unterwegs. Hinter ihr liegt ein intensives Trainingslager in Kienbaum. Der letzte Härtetest vor dem Abflug nach Japan am 17. August soll nun bei den Deutschen Meisterschaften in Hamburg stattfinden, wo das Team Deutschland Paralympics nochmals unter Wettkampfbedingungen Rennen bestreiten kann. Bisher sei das Training gut gelaufen, berichtet Adler, „auch wenn wir ordentlich platt sind“.
Die 32-Jährige reist nach einer erfolgreichen Saison mit einem guten Gefühl nach Asien. Der Gewinn des Europameistertitels und ihr erster Weltcup-Sieg haben ihr Auftrieb und die nötige Sicherheit gegeben, mit der Konkurrenz mithalten zu können. „Für mich war wichtig zu sehen, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Nach vielen Monaten ohne Rennen wusste man nicht so recht, wo man steht. Umso wichtiger sind für mich diese beiden Erfolge, durch die ich mich regelrecht freigepaddelt habe“, beschreibt Adler, die das zurückliegende Jahr für sich bestmöglich genutzt hat.
Zwei bis drei Einheiten absolviert sie in der Regel täglich. Parallel studiert Adler, die seit einem schweren Unfall in einem stillgelegten Bergwerk im Rahmen ihrer Doktorarbeit vor sechs Jahren inkomplett querschnittgelähmt ist, Meteorologie in Leipzig. Die Tokio-Absage 2020 nutzte sie, um ihre letzten Prüfungen an der Uni abzulegen. „So schlimm und traurig die Verschiebung der Spiele im ersten Moment war, mit Blick auf mein Studium hat mir die zusätzliche Zeit in die Karten gespielt. Ich habe nun den Kopf frei für die Paralympics und kann danach in Ruhe mit meiner Masterarbeit beginnen“, sagt die Naturliebhaberin, die bereits einen Abschluss in Geologie hat.
Das Training lief trotz Wettkampfpausen ohne Unterbrechung weiter. Wenn auch unter schwierigen Bedingungen. Gerade in den Wintermonaten konnte Adler coronabedingt eben nicht wie sonst üblich in die Sonne fliegen und bei Wärme im Wasser trainieren. Die Lehrgänge in Südafrika fielen flach – und damit fehlten ihr vier wichtige Wochen, „in denen ich sonst viel Energie tanke. Sportlich betrachtet war der Winter schon sehr, sehr hart“, fügt Adler an, „jeden Tag bei der verdammten Kälte aufs Wasser zu müssen, hat über das Training hinaus wirklich viel Kraft gekostet. Wir können zwar auf Paddel-Ergometer zurückgreifen, aber es wird irgendwann anstrengend, wenn man nur die Wand anschaut. Vom Kraftraum allein kann ein Kanute auch nicht leben. Wir brauchen das Wassergefühl.“
Die Not machte schließlich erfinderisch – kurzerhand holte einer der Trainer die Boote einfach in die Schwimmhalle. „Mit Gummibändern am Startblock fixiert, konnten wir zumindest auf der Stelle paddeln. Das war eine willkommene Abwechslung“, berichtet Adler, die sich jedoch nie entmutigen ließ. „Ich bin ein ehrgeiziger Mensch und habe immer versucht, mich durchzubeißen.“
Schließlich sei das alles nicht selbstverständlich gewesen. „Während Kinder und Jugendliche über Monate zu Hause saßen und auf ihre Hobbies verzichten mussten, hatten wir Kaderathleten das Privileg, weiter trainieren zu dürfen. Ich empfinde große Dankbarkeit“, betont Adler, für die der Sport gerade in dieser schwierigen Phase ein noch wichtigerer Anker war. Die Coronazeit habe ihr noch einmal sehr deutlich gezeigt, wie wichtig ein gutes Team drumherum ist. „Ich fliege zwar als Einzelperson nach Tokio, aber dass dies überhaupt möglich ist, habe ich der Unterstützung vieler Menschen zu verdanken.“
Insbesondere ihre Eltern und Großeltern seien ihr großer Rückhalt. Die hatten ohne ihr Wissen eine Überraschung organisiert, Freunde und Weggefährten ihrer Tochter eingeladen, die mit Paddeln Spalier standen und entlang der Straße eine 100 Meter lange Wimpelkette spannten, um sie stimmungsvoll in Richtung Tokio zu verabschieden. „Ich bin vom Bootssteg weggefahren und habe meinen Augen nicht getraut. Ich war komplett überwältigt“, sagt Adler, die am 2. September ihr erstes Rennen bestreitet. Gefahren wird im Einzelkajak (K1) und im Auslegerkanu Va‘a (V1) über 200 Meter.
Doch zuvor beziehen die Para Kanuten noch ein Pre-Camp in Naka, etwa acht Stunden südlich der Hauptstadt. Idyllisch gelegen und fernab vom Trubel sollen sich die Athleten dort neben dem täglichen Training an die japanische Zeitzone sowie das Klima anpassen. Hoffentlich, sagt Adler, sind bis dahin auch die Boote unbeschadet in Japan ankommen. Die deutsche olympische K4-Crew um Ronald Rauhe hatte bekanntermaßen nicht so viel Glück. Das Viererkajak wurde beim Verladen in Luxemburg von einem Gabelstapler gerammt und schwer beschädigt. „Der Transport ist immer eine heikle Sache. Anders als die olympischen Kanuten haben wir die Boote nicht mit dem Flugzeug, sondern per Schiff im Container auf die Reise geschickt“, erklärt Adler. Der Vorfall hat das Team nochmal sensibilisiert. „Es ist immer ein mulmiges Gefühl dabei, wenn man sein wichtigstes Sportgerät aus der Hand gibt, aber ich bin zuversichtlich, dass beim Transport alles funktioniert.“
Am 28. August werden Adler und ihre Mannschaftskollegen schließlich nach Tokio aufbrechen und anschließend ins Paralympische Dorf einziehen. „Ich bin sehr gespannt, wie es dort aussieht.“ Von den olympischen Kanuten hat Anja Adler bereits viele Videos und Fotos gesehen. Und entgegen vielen Befürchtungen seien deren Eindrücke auch überwiegend positiv ausgefallen.
Dass niemand aus ihrer Familie oder dem Freundeskreis das Abenteuer Tokio vor Ort mit ihr teilen kann, bedauert sie allerdings sehr. Umso glücklicher ist sie, zumindest ihre Heimtrainerin Ognyana Dusheva in der Nähe zu haben. Sie wird das Refugee-Team betreuen, für das ihr Vereinspartner Anas al Khalifa an den Start geht. „Ich werde sie zwar nicht so oft sehen, aber es ist für mich ein schönes Gefühl zu wissen, dass sie dabei ist und ich mich notfalls an sie wenden kann.“
Adler will in Tokio an ihre guten Saison-Leistungen anknüpfen und bestenfalls „noch einen draufpacken“, wie sie sagt. Allzu sehr unter Druck setzen möchte sie sich indes nicht, zumal die Bedingungen nicht einfach sind. „Wir Paddeln im Salzwasser in einem Hafenbecken und uns trennt nur eine Mauer vom Ozean. Im schlimmsten Fall bekommen wir die volle Breitseite des Windes ab. Das kann ein Rennen schon mal kräftig durcheinander wirbeln.“
Ziel ist es, am Tag x topfit zu sein. „Zu was es dann reicht, wird man sehen. Ich will ankommen und sagen: Ich habe meine beste Leistung abrufen können“, entgegnet Adler. „Das wäre für mich der größte Erfolg.“
Alle Informationen zu den Paralympics in Tokio gibt es auf unserer Website.