Mit einer Silbermedaille im Para Biathlon über zehn Kilometer im Gepäck verkündete Martin Fleig bei den Paralympics in Peking sein Karriereende. Zwei Wochen nach der Rückkehr aus China blickt der 32-Jährige vom Ring der Körperbehinderten Freiburg auf eine bemerkenswerte Laufbahn zurück – und verrät, warum ihn der Selbstzweifel als Dauerbegleiter eher vorangetrieben als gehemmt hat.
Martin Fleig hatte sich vor dem letzten Para Biathlon-Rennen seiner Karriere extra bei der Mannschaftsleitung erkundigt. Kein Problem, hieß es da. Natürlich sei es regelkonform, wenn er ein Tape an seinem Schlitten mit der Aufschrift „Goodbye“ befestigt; das sei schließlich keine politische Botschaft. Die Mitarbeiterin des lokalen Organisationskomitees im National Biathlon Center Zhangjiakou sah es anders. Mit einer Kamera bewaffnet lief sie unmittelbar vor dem Start des 12,5 Kilometer-Rennens in der sitzenden Klasse durch die Reihen, entdeckte das Tape und riss es ohne Vorwarnung ab. So etwas sei verboten, erklärte sie Martin Fleig, der erst verdutzt und dann verärgert war, bevor er sich auf seinen Wettkampf konzentrierte.
Die Episode passt ins Bild. Als „schwierige Geschichte“ bezeichnet der 32-Jährige die zweieinhalb Wochen bei den Paralympics in China. „Die erschwerten Bedingungen durch Corona allein hätten schon genügt“, sagt er. Dann kam noch der Krieg in der Ukraine hinzu, die belasteten Begegnungen mit dem ukrainischen Team oder mit den anfangs noch anwesenden und dann ausgeschlossenen Sportlerinnen und Sportlern aus Russland und Belarus. Auf der anderen Seiten die „riesengroße Ehre“, bei der Eröffnungsfeier die deutsche Fahne ins Pekinger Nationalstadion zu tragen, die ihm und der Para Ski alpin-Kollegin Anna-Lena Forster gemeinsam zuteilwurde. „Während wir das machen durften, mussten ein paar Tausend Kilometer westlich unzählige Familien um ihr Leben bangen“ – darunter Verwandte der ebenfalls an der Feier teilnehmenden ukrainischen Teammitglieder. „Das war im Nachhinein betrachtet schon eine seltsame Situation.“
Martin Fleig – ein Familienmensch
Nach erwähntem 12,5-Kilometer-Rennen wartete Fleig im Ziel auf all die Konkurrenten, gegen die er in den vergangenen Jahren immer wieder im sportlich-fairen Wettstreit startete. Er verabschiedete sich mit Umarmungen – und die „netten Kerle“, wie er sie nennt, sparten nicht mit Glückwünschen zu seiner Karriere. „I’ll miss you – ich werde dich vermissen“, sagte etwa der US-Amerikaner Daniel Cnossen und zog bildlich gesprochen seinen Hut vor dem Deutschen, die Kanadier Collin Cameron und Derek Zaplotinsky kamen in der Mensa des Paralympischen Dorfes auf ihn zu, um sich persönlich zu verabschieden. „Ein Zeichen der Freundschaft“ für Fleig, der dem aktiven Sport ohne Wehmut, dafür mit Freude und Zufriedenheit den Rücken kehrt.
Die Entscheidung, dass er einen Schlussstrich ziehen werde, hatte er schon vor dem Abflug nach Peking getroffen. In China kommunizierte er sie zuerst teamintern und dann gegenüber den überraschten Medien. Er wolle sich künftig stärker um seine Familie kümmern, allen voran seine Frau Stefanie und Hund Douglas. Immer wieder hat er in den Interviews bei diesen Paralympics betont, wie groß die Unterstützung seiner Frau war. „Auch in einer Individualsportart erreichst du nichts allein. Du brauchst Wegbegleiter“, sagt er. Zu denen zählt er Trainer und Betreuer, das gesamte Team hinter den Kulissen. Der Rückhalt im Privaten aber ist aus seiner Sicht „wichtiger als alles andere“.
Diesen Rückhalt habe er immer gespürt, sei es vonseiten Stefanie Fleigs oder seiner Eltern Bernd und Regine, die von Anfang an stolz auf ihn waren und immer an ihn glaubten. Auch damals schon, als er 2006 in den Weltcup startete, mit letzten, vorletzten und drittletzten Plätzen, mit Riesenabständen nach vorne. Ob er selbst damals erwartet habe, dass er mal Erfolge einfahren werde wie beispielsweise 2015 in Cable (USA) bei seiner ersten WM-Medaille mit Bronze im Para Biathlon über 12,5 Kilometer? Oder in der Saison 2016/2017 mit dem Gewinn des Gesamtweltcups und mit Doppel-Gold in Finsterau (Bayerischer Wald) bei der Heim-WM, die ihm zusätzlich zweimal Bronze und die schönsten Erinnerungen seiner Karriere bescherte? Oder 2018 bei den Paralympics in PyeongChang (Südkorea), als er nach einigen herben Enttäuschungen in den Rennen zuvor im finalen Para Biathlon-Rennen über 15 Kilometer nach einem Husarenritt Gold errang?
„Nein“, sagt er, erwartet habe er das nicht. „Im Leistungssport darfst du dir Erfolge allenfalls wünschen und musst dann alles dafür tun, um sie zu erreichen.“ Ähnlich äußert sich Bundestrainer Ralf Rombach, der ihn seit 2011 begleitete und prägte, genau wie der für den deutschen Nachwuchs zuständige Michael Huhn, dem Martin Fleig attestiert, dass er sich fürs Team zerreiße. Ralf Rombach sagt: „Als ich anfing, hieß es, Martin fehle es an Härte und Selbstbewusstsein. Das hat er sich in den Jahren alles erarbeitet.“
Posten als Trainer oder Scout? „Mittelfristig vielleicht!“
Das Selbstvertrauen war am Ende da, auch wenn es sich zuweilen versteckte. Dann zweifelte Martin Fleig an seinem unbestreitbaren Können. „Man ist selbst sein härtester Kritiker, man macht sich immer den größten Druck“, sagt er und fügt hinzu: „Ich habe das nie negativ bewertet. Das gehört dazu, so bin ich. Und die Menschen in meinem Umfeld, vor allem Steffi, haben mir immer wieder Mut gemacht.“ Dass es ihm gelang, die Zweifel zu überwinden und über sich selbst zu triumphieren, dafür sind die Spiele in Peking ein weiteres Zeugnis. Im Para Biathlon über die Mitteldistanz schoss er beim ersten Schießen zweimal daneben, musste 200 Meter in der Strafrunde zurücklegen und lag nach zwei Kilometern auf Rang elf. „Es war eines der schwierigsten Rennen in meiner Karriere, brutal hart“, berichtet er. Doch was kaum einem anderen gelang – anschließend dreimal fehlerfrei zu bleiben – glückte ihm. Silber war der Lohn.
„Ich wäre auch ohne die Medaille glücklich gewesen. Aber mit Edelmetall lässt es sich natürlich noch besser aufhören“, sagt er. Seit 14 Tagen ist er zurück aus Peking. In seinem Heimatort Gundelfingen hat er sich im Fitnessstudio angemeldet, fünf Minuten mit dem Rollstuhl entfernt von daheim. Von Anfang April an arbeitet er nicht mehr halbtags, sondern in Vollzeit beim Landratsamt Breisgau-Hochschwarzwald, dem Arbeitgeber, der ihm dankenswerterweise stets sportliche Freiheiten einräumte. „Erst wenn ich diesen Schritt vollzogen habe, werde ich wissen, wie es sich wirklich anfühlt, die Karriere beendet zu haben.“
Ralf Rombach, Michael Huhn und der Rest des deutschen Teams Para Ski nordisch hätten ihn liebend gerne noch ein Weilchen behalten. Es kursieren Überlegungen, in als Trainer oder Talentsucher einzubinden. „Mittelfristig kann ich mir das vorstellen“, erklärt er. Kurzfristig will er erstmal Abstand gewinnen – und sehen, wie das so ist, ein Leben ohne Leistungssport, nach 16 Jahren on Tour.
Quelle: Benjamin Schieler