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Dass Kinder reiten, bevor sie laufen können – in einer Reiterfamilie ist das nichts Ungewöhnliches. Wobei „reiten“ zumindest im Fall von Anna-Lena Niehues sicherlich nicht ganz richtig ist. „Meine Oma hat mich schon früh aufs Pferd gesetzt und mich natürlich festgehalten“, sagt sie schmunzelnd. Richtig ist aber, dass die fast 40-Jährige vom Reitverein Rüenberg nach ihrer Tumor-Operation im Jahr 2017 auf dem Pferd saß, bevor sie wieder laufen konnte. Jetzt, sieben Jahre später, steht sie kurz vor ihrem Paralympics-Debüt – einer Station in ihrer sportlichen Karriere, die nicht unbedingt geplant war.

„Wenn ich etwas mache, dann ganz oder gar nicht“, sagt Anna-Lena Niehues. „Gar nicht“ scheint für die Para Dressurreiterin aber nicht in Frage zu kommen. Das Tagespensum der Pferdewirtschaftsmeisterin ist beträchtlich. Zusammen mit ihrem Mann betreibt sie in Gronau einen Reiterhof, auf dem sie Reiterferien und Reitunterricht anbietet. Ihre einjährige Tochter, die Pferdeausbildung und der Leistungssport füllen ebenfalls ihre Wochen. „Und durch die Behinderung muss ich natürlich auch mich selbst trainieren“, sagt sie. Anna-Lena Niehues weiß, „dass man nicht zu viele Pläne machen darf, weil sich sowieso Vieles ganz anders entwickelt.“
 
Keine Spur von Weltuntergangsstimmung
 
Was Anna-Lena Niehues auszeichnet, ist, dass sie zwar nie einen sogenannten Plan B aber immer eine Idee hat, wie es weitergehen kann. „Wenn nicht so, dann anders“, lautet ihr Motto. Nicht zuletzt der Betrieb hat sie gelehrt, auf Unvorhergesehenes zu reagieren und intuitiv die richtige Entscheidung zu treffen. So war es auch, als besagte Operation nicht wie gewünscht verlief. „Der Tumor saß auf Höhe der Halswirbelsäule direkt am Rückenmark“, erzählt Anna-Lena Niehues. Die OP schien zunächst gut gegangen zu sein, nur sei ein Nerv mindestens gereizt, wenn nicht gar geschädigt worden – so genau lässt sich das nicht mehr sagen.
 
Deutlicher waren jedoch die Auswirkungen. „Schon beim Aufwachen auf der Intensivstation habe ich gemerkt, dass ich die ganze rechte Körperhälfte nicht bewegen konnte.“ Statt in Panik zu verfallen, hat sie diesen neuen Zustand direkt als Herausforderung angenommen. Und sich ihren Humor bewahrt. „Zum behandelnden Arzt habe ich gesagt, dass ich jetzt nur noch Western reiten kann – da hält man die Zügel nur mit einer Hand“, erinnert sie sich. Von Weltuntergangsstimmung keine Spur.
 
Erst ein Jahr später fand sie den Weg in den Para Sport. „Ich habe eine ganze Zeit gedacht, ich könnte dort weitermachen, wo ich im Regelsport aufgehört habe. Aber die Nachteile gegenüber den anderen Reitern waren zu deutlich“, musste sie angesichts der Einschränkungen im rechten Arm und im rechten Bein erkennen. 2018 fing sie an, sich mit dem Para Sport auseinanderzusetzen, zu schauen, an wen sie sich wenden muss. Durch die Corona-Pandemie konnte sie erst 2022 klassifiziert werden. „Danach ging es dann ganz schnell.“ Niehues, die am Tag der Paralympics-Eröffnung ihren 40. Geburtstag feiert, nahm an den deutschen Meisterschaften im Para Dressursport teil und holte sich mit ihrer Westfalenstute Quimbaya im Grade IV direkt den Titel.
 
Der Lohn: die Nominierung für die Weltmeisterschaften in Herning, Dänemark. Dort wurde sie auf Anhieb Sechste in der Einzelwertung und Fünfte in der Kür. Es folgte eine Babypause, so dass sich Anna-Lena Niehues seit 2023 auf ihre persönliche „Road to Paris“ begeben hat. Wie erstarkt wirkt sie, bildet mit ihrer Stute mehr denn je eine Einheit, verbuchte zahlreiche Siege und zweite Plätze. Die deutsche Meisterschaft in Balve 2024 krönte sie nicht nur mit dem Titel, sondern zudem mit einer persönlichen Bestleistung. Ein Fingerzeig für Paris!?
 
„Das Viereck ist immer gleich“

Die ausgezeichneten Vorleistungen bescherten ihr einen herausragenden zweiten Platz im Grade IV in der aktuellen Para Dressursport-Weltrangliste. „Die Weltranglisten-Erste Kate Shoemaker habe ich schon geschlagen; die Paralympics-Siegerin 2016 und 2021 Sanne Voets auch. Nur gegen die Europameisterin Demi Haerkens bin ich noch nicht geritten. Zwischen uns Vieren könnte es in Paris eng und besonders spannend werden“, meint Niehues. Was ihr in der Prüfungssituation im 20x60 Meter großen Dressurviereck helfen könnte: „Ich bin vor den Prüfungen nur sehr selten aufgeregt. Vorher habe ich viel zu viel zu tun, und konzentriere mich darauf, Quimbaya vorzubereiten. So habe ich gar keine Zeit, um über das nachzudenken, was ich gleich tun werde.“
 
So ist es dann auch, wenn sie ihre Aufgabe reitet. Dann ist die Reiterin ganz bei sich und ihrer Stute. „Alles andere um mich herum ist dann fast egal, selbst wenn da 16.000 Menschen sitzen. Das Viereck ist immer gleich, und darauf muss ich mich konzentrieren.“ Für die sensible Quimbaya und die Bewertung ihrer beider Leistung könnte das am Ende im wahrsten Sinne des Wortes Gold wert sein.
 
Quelle: Heike Werner / DBS

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