Vico Merklein nimmt nach dem emotionalen Gold-Triumph von Rio und schmerzhaften Schulterproblemen die Paralympics in Tokio 2020 ins Visier
Frechen, 10. Mai 2017. Die Saison im Para Radsport steht vor der Tür – und damit ein Jahr mit Weltcups, den deutschen Meisterschaften und schließlich den Weltmeisterschaften in Südafrika Ende August als Höhepunkt. Die deutschen Athletinnen und Athleten wollen an ihre tollen Erfolge von 2016 anknüpfen. Bei den Paralympics in Rio de Janeiro jubelte das deutsche Team über acht Goldmedaillen – eine davon holte Vico Merklein. Es war sein erstes Gold bei einem ganz großen Wettkampf. Nach zehn Jahren Leistungssport mit 200.000 Trainingskilometern. Ein Kampfschwein, einer, der sich quält, der für seinen Sport brennt – und nach seinem ersehnten Titel längst noch nicht satt ist.
Wenn Vico Merklein an den 15. September des vergangenen Jahres denkt, läuft es ihm noch immer eiskalt den Rücken hinunter. Ganz oben auf dem Treppchen war er schon häufig – allerdings noch nie bei Weltmeisterschaften oder den Paralympischen Spielen. Doch in Rio erfüllte sich der 39-jährige Handbiker aus dem hessischen Babenhausen seinen großen Traum. Auf der Strecke alles gegeben, den Sprint für sich entschieden, als Erster über die Ziellinie gefahren. Der Rest war pure Emotion. „Ich habe zehn Jahre dafür geackert, bin so oft auf die Nase gefallen, aber immer wieder aufgestanden und noch stärker zurückgekommen“, sagt Merklein. Der Moment in Rio: unbeschreiblich. „Mir ist so viel durch den Kopf gegangen. Ich habe an all die Menschen gedacht, die mich auf dem Weg großartig unterstützt haben, die Gespräche mit meiner Familie, auch an die Rückschläge, die unzähligen Trainingsstunden, die große Disziplin – ich habe diesem Ziel alles untergeordnet. Denn ich wollte mir selbst nicht im Ziel vorwerfen, dass ich nicht alles dafür getan und nicht alles aus mir herausgeholt habe“, erklärt er. Doch der Plan ging auf. Auf der Strecke in Rio konnte Vico Merklein seine Stärken ausspielen. „Der Kurs war wie für mich gemacht. Doch das Straßenrennen ist immer auch taktisch, man muss schlau fahren und kann nicht nur vorne die Wildsau rauslassen“, sagt der Mann mit den kräftigen Oberarmen. Schnörkellos. Geradeaus. So wie er über den Asphalt rast.
Sieben Monate fern von der Heimat: „Du kannst nicht gewinnen, wenn du nicht alles gibst!“
Das Rio-Gold war ein Produkt harter Arbeit. Allein im Jahr 2016 war der 39-Jährige sieben Monate fern von der hessischen Heimat. Teneriffa, Lanzarote, Mallorca, Kienbaum, Arizona – was nach tollen Urlaubszielen klingt, war für Merklein Quälerei. Um gerade in den Wintermonaten die Grundlagen zu legen, braucht er diese Trainingslager – und für die Psyche. „Natürlich trainiere ich auch zu Hause auf der Rolle. Aber wenn du das jeden Tag machst, brauchst du irgendwann eine Zwangsjacke. Ich habe mich schließlich nicht fürs Radfahren entschieden, um wie ein Hamster im Käfig zu ackern.“ Der Leistungssport ist längst nicht immer Vergnügen. „Doch es ist ja mein freier Wille. Mich zwingt niemand dazu. Wir sind halt schon ein bisschen bekloppt“, sagt Merklein. Immer getreu seinem Motto: „Du kannst nicht gewinnen, wenn du nicht alles gibst!“
Ein typischer Tag im Leben des querschnittsgelähmten Handbikers vom GC Nendorf sieht so aus: „Als erstes: Nahrungsaufnahme. Das ist tatsächlich kein Frühstück, erst recht kein Genuss. Ich muss eine Menge essen, um die Substanz zu erhalten.“ Es folgt die erste Einheit, dann ein Erholungsschlaf und schließlich die zweite Einheit. „Abends liegst du auf der Couch und schaust zum Fernseher, nimmst es aber gar nicht mehr wahr, weil du zu platt bist“, schildert Merklein, der dem Top Team des Deutschen Behindertensportverbandes angehört. So war es vor Rio. Tag für Tag. „Jede Einheit hat mich meinem Ziel nähergebracht, ich habe kein einziges Training ausgelassen und es nicht hinterfragt, was ich da überhaupt mache. Einfach rein ins Handbike und trainieren.“ Kilometer für Kilometer, immer wieder. „Klar, man entbehrt viel“, sagt Vico Merklein, um direkt anzufügen: „Allerdings bekommt man so viel zurück. Ich kann mich daran total bereichern.“ So wie am 15. September 2016 in Rio de Janeiro.
Schmerzhafte Schulter-OP: „Nach 200.000 Kilometern war eine Inspektion fällig“
Doch einen Tag nach dem Triumph legte ihn ein Infekt flach. Hinzu kamen die hartnäckigen Probleme mit der Schulter, die ihn bereits ein halbes Jahr plagten. Die Schmerzen waren häufig so groß, dass er nachts kein Auge zudrückte. „Beim Training habe ich das ausgeblendet. Nach Rio habe ich mich allerdings gefragt, wie ich das ausgehalten habe. Der Fokus auf das Ziel war wohl so groß“, erklärt der Babenhauser. Gesund sei das jedoch nicht gewesen. Grund für die Schmerzen war eine Entzündung der Bizepssehne. „Es gab dann nur zwei Möglichkeiten: entweder eine komplizierte Operation oder aufhören“, sagt Merklein und beantwortet seine Entscheidung mit seinem ganz eigenen Humor: „Nach den rund 200.000 Kilometern, die ich in den zehn Jahren Leistungssport abgespult habe, war wohl mal eine Inspektion fällig.“
Dabei war ihm vor und auch nach der OP nicht wirklich zum Lachen zumute. Er habe sich gefragt, warum er sich das überhaupt angetan habe. Beim Kurbeln auf dem Handbike standen teils Tränen in seinen Augen – vor Schmerzen. „Es war eine verdammt harte Phase, man gerät dann schon ins Grübeln“, gibt Merklein zu. „Doch ich wollte nicht einfach alles hinschmeißen. Ich bin Leistungssportler durch und durch, Sport ist mein Leben.“ Also biss er auf die Zähne und kämpfte sich durch – wie so oft bisher. Beispielsweise nach seinem Motorradunfall einen Tag vor seinem 20. Geburtstag, am 11. August 1997. Seitdem ist er querschnittsgelähmt.
Motorradunfall mit 20 Jahren: „Ich bin nicht krank, ich sitze nur im Rollstuhl“
„Ich habe vier Jahre gebraucht, um zu akzeptieren, dass ich mein Leben jetzt so führen muss, im Rollstuhl eben. Mir ist es aber gelungen, die Situation anzunehmen. Das war anfangs schwierig zu verstehen, doch jetzt denke ich gar nicht mehr großartig darüber nach, was ich kann oder was ich nicht mehr kann. Ich bin zum Glück noch sehr selbstständig und absolut zufrieden mit meinem Leben“, sagt Merklein und fügt an: „Ich bin ja nicht krank, ich sitze nur im Rollstuhl.“
Jetzt steht trotz der schwierigen Vorbereitung die neue Saison vor der Tür. Die ersten Rennen hat Vico Merklein bereits absolviert, nun geht es zum ersten Weltcup ins italienische Maniago (11.-14. Mai) und eine Woche später nach Ostende (Belgien). Es folgen die deutschen Meisterschaften am Pfingstwochenende in Köln und schließlich Ende August die Weltmeisterschaften im südafrikanischen Pietermaritzburg. In ein Motivationsloch ist der 39-jährige Handbiker nach seinem Triumph in Rio nicht gefallen. „Ich habe nicht vor schwächer zu werden, nur weil ich Gold gewonnen habe“, sagt Merklein schmunzelnd. Eine Kampfansage an die Konkurrenz. Schließlich fehlt ihm WM-Gold in seiner großen Trophäen-Sammlung noch. Das Fernziel sind die Paralympics 2020 in Tokio. „Vielleicht gelingt mir dort ja Doppel-Gold. Das Motto ,Dabei sein ist alles‘ zählt jedenfalls für mich nicht. Wenn ich an den Start gehe, will ich auch gewinnen, ob im Straßenrennen oder Zeitfahren.“ Mit der geballten Kraft der Kurbel, voller Motivation, immer alles zu geben. Das ist für Vico Merklein auch die Faszination an seinem Sport: „Unsere Rennen dauern nur eine gute Stunde. Da ist es wie im Boxring: Man muss richtig Gas geben und sportlich so draufhauen, dass die anderen einbrechen.“
Mehr zum Top Team, das von der Allianz Deutschland AG, der Deutschen Telekom AG, der Sparkassen-Finanzgruppe und der Toyota Deutschland GmbH gefördert wird, sowie zum Kader finden Sie auf der Internetseite der Deutschen Paralympischen Mannschaft.