100 Tage bis zu den Paralympics: Chef de Mission Dr. Karl Quade über den Stand der Qualifikation, Schwierigkeiten und Hürden bei der Vorbereitung sowie das Fehlen der „Super-Atmosphäre“ – Para Kanutin Edina Müller hofft, dass trotzdem der Spirit der Spiele überspringt
Kurz nach Beginn der Corona-Pandemie war klar: Die Olympischen und Paralympischen Spiele in Tokio werden um ein Jahr verschoben. Seither steht im Fokus, wie die Großevents sicher durchgeführt werden können. 100 Tage vor den Paralympics gibt es weiterhin einige Fragezeichen und Unsicherheit – aber auch immer mehr Antworten. Deutschlands Paralympics-Urgestein und Chef de Mission, Dr. Karl Quade, geht davon aus, dass die Spiele stattfinden werden – aber völlig anders werden als gewohnt.
107 Startplätze für die Paralympics haben Deutschlands Athletinnen und Athleten 100 Tage vor Beginn der Spiele in Japan bereits gesichert – Tendenz steigend, wie Quade im Podcast "Alles Para" erklärt: „Wir hoffen auf 130 bis 150 Athletinnen und Athleten. Viele Qualifikationen laufen aktuell noch und ich hoffe natürlich, dass es noch einige Plätze mehr werden.“ Derzeit kämpfen die Para Kanuten und das die Para Badminton-Nationalmannschaft um weitere Slots. Anfang Juni sollen im Para Rudern noch weitere Boote hinzukommen, zeitgleich könnten sich im Para Tischtennis im slowenischen Lasko weitere Startplätze ergeben. Die Sitzvolleyball-Herren kämpfen beim Heim-Turnier in Duisburg um das letzte Tokio-Ticket (1. bis 5. Juni) und wären dann neben den Goalballern und beiden Rollstuhlbasketball-Teams die vierte deutsche Mannschaft bei den Paralympics. Im Para Sportschießen steht im peruanischen Lima ebenfalls noch ein Qualifikations-Turnier Mitte Juni an.
Hochklassige Wettkämpfe zur Normerfüllung oder zum Formcheck im Vorfeld der Spiele bieten sich noch für die drei größten Sportarten an: Für die Para Schwimmer*innen bei der EM ab dem 16. Mai auf Madeira (Portugal), für die Para Leichtathlet*innen bei der EM im polnischen Bydgoszcz ab dem 1. Juni und für die Para Radsportler*innen im portugiesischen Cascais ab dem 9. Juni.
Am 19. Juli wird die offizielle Paralympics-Nominierung verkündet
Spätestens am 19. Juli – wenige Tage vor Beginn der Olympischen Spielen – wird feststehen, wer Deutschland vom 24. August bis 5. September 2021 bei den Paralympics in Tokio vertreten darf. Dann gibt der Deutsche Behindertensportverband (DBS) die offizielle Nominierung bekannt und will eine schlagkräftige Mannschaft zu den Spielen schicken. „Im Medaillenspiegel streben wir einen Platz unter den besten zehn Nationen an, aber das ist sonst schon schwer vorherzusagen und unter diesen Bedingungen noch schwerer. In der Para Leichtathletik, im Para Radsport und im Para Schwimmen werden 75 Prozent aller Medaillen vergeben, diese Sportarten prägen den Medaillenspiegel und sie werden für unser gesamtsportliches Abschneiden entsprechend mitverantwortlich sein“, sagt Quade, der auch Vizepräsident Leistungssport im DBS ist: „Ich hoffe, dass wir dort gut abschneiden.“
Dass die Pandemie die Leistungen beeinträchtigt oder gar zu einem Leistungseinbruch führen wird, weil vielerorts nicht kontinuierlich trainiert werden konnte, glaubt der ehemalige Standvolleyballer nicht – im Gegenteil: „Ich tippe darauf, dass es wie auch bei den letzten Malen zu einer Rekordflut kommen wird. Auch wenn die Zuschauerzahl reduziert ist und die Rahmenbedingungen andere sind – wir sehen beispielsweise jetzt schon im Schwimmen und überall dort, wo Leistung gemessen werden kann, ganz starke Darbietungen in der Vorbereitung.“
„Superspreader-Veranstaltung für die Weltgemeinschaft“ vermeiden
Doch bis tatsächlich das Sportliche im Vordergrund steht, sind noch viele Fragen zu klären – Stichwort Impfung, Anreise, Hygiene und Sicherheit vor Ort. „Ich dachte, man hätte schon alles erlebt“, sagt Quade, der seit 1996 als Chef de Mission bei allen Paralympics dabei war: „Ich bin auf der einen Seite aufgeregt, auf der anderen Seite fühle ich, dass man sich mit vielen Dingen beschäftigen muss, die noch gar nicht da sind. Bei allen Informationen, die wir täglich aus Japan bekommen, merke ich, dass das doch völlig andere Spiele werden, als wir das bisher kannten.“
Wie die Spiele vor Ort sicher ablaufen sollen, regeln sogenannte Playbooks – quasi große Hygienekonzepte und Handlungsanweisungen für alle Menschen, die an den Spielen teilnehmen. Dazu zählen Smartphones mit Apps, um den Gesundheitszustand einzutragen, kurze Essenszeiten vor Ort, keine internationalen Zuschauerinnen und Zuschauer, weniger Kontakt zur Presse und tägliche Tests. „Es werden Rahmenbedingungen herrschen, die kaum Spielraum und Möglichkeiten bieten. Wir sind jetzt bei Version zwei des Playbooks – und die ist deutlich straffer als Version eins. Es gibt noch eine dritte Version, vielleicht kommt da noch mehr auf uns zu, was ich nicht hoffe. Denn tägliche Tests und die vielen Maßnahmen kosten Zeit und Nerven und müssen eingeplant werden. Das Organisationskomitee in Japan tut alles dafür, dass sich weder die Olympischen noch die Paralympischen Spiele zu einer Superspreader-Veranstaltung für die Weltgemeinschaft entwickeln.“
„Das fällt alles weg, das werden wir vermissen“
Sportlerinnen und Sportler, die schon die Paralympics live vor Ort erlebt haben, könnten wie Quade vor allem die Stimmung und Kultur um das Event herum vermissen: „Uns erwartet sicher nicht so eine schöne Atmosphäre wie sonst. Der Tagesablauf wird sein: Dorf, Training oder Wettkampf und zurück ins Dorf. Da ist nichts mit dem Deutschen Haus, das immer ein großartiger Treffpunkt für alle Seiten war. Oder diese Super-Atmosphäre im Dorf, dieses Miteinander, das viel ausgeprägter ist als bei Olympischen Spielen. Das fällt alles weg, das werden wir vermissen – jetzt steht allein der Wettkampf unter schwierigen Bedingungen im Fokus. Da müssen alle Abstriche machen – leider auch die Athletinnen und Athleten.“
Auch wenn in Japan immer wieder von Lockdowns und hohen Corona-Zahlen die Rede ist, geht Quade davon aus, dass die Spiele letztlich stattfinden werden. „Japan ist sehr vorsichtig und sensibel, was Infektionsschutz angeht. Da wundert man sich, wenn man die absoluten Zahlen sieht. Da wird versucht, frühzeitig mit harten Maßnahmen die Verbreitung einzuschränken. In Deutschland hatten wir viel höhere Zahlen. Dass die Teilnehmenden bei den Spielen keinen Kontakt zur japanischen Bevölkerung haben werden, soll in meinen Augen diese auch beruhigen und Vertrauen schaffen.“ Dazu soll auch beitragen, dass der Großteil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Reise nach Japan mit erfolgter Impfung antreten wird.
Edina Müller: „Ich hoffe, dass trotzdem der Funke und der Spirit der Paralympics überspringt“
Für Edina Müller, die 2008 und 2012 im Rollstuhlbasketball und 2016 im Para Kanu erfolgreich bei den Paralympics dabei war, sollen es die vierten Spiele werden. Ob ihr kleiner Sohn Liam dabei sein kann, ist wie so vieles noch nicht geklärt. Dennoch verspürt die erfahrene Athletin „auf jeden Fall“ Vorfreude: „Ich erhoffe mir, dass trotzdem der Funke und der Spirit der Paralympics überspringt und die Leute zu Hause kräftig mit ihren Athleten mitfiebern. Gespannt bin ich immer auf die ganz besondere Begeisterung, die von den Leuten vor Ort ausgeht und ich bin mir sicher, sie werden trotz der Umstände auch diese Spiele zu etwas ganz Besonderem machen.“
Para Schwimmer Taliso Engel, 2019 mit 17 Jahren Überraschungs-Weltmeister über 100 Meter Brust, wird seine Paralympics-Premiere erleben – dann hoffentlich mit Abitur im Gepäck, das er zwischen der EM auf Madeira und den intensiven Vorbereitungen auf Tokio noch schreiben muss. Der 18-Jährige, der sportlich auf seiner Paradestrecke um die Medaillen mitschwimmen möchte, freut sich auf sein Debüt – vor allem auf die „gigantische Schwimmhalle“: „Ich glaube, das wird ein Super-Erlebnis, auch wenn es jetzt natürlich sehr, sehr schade ist, dass keine ausländischen Zuschauer dabei sein dürfen. Ich freue mich unfassbar, das paralympische Leben im Dorf und in dieser riesigen Schwimmhalle mitzubekommen und möchte dieses Wettkampffeeling, dieses Feeling von den Paralympischen Spielen, mitnehmen und viele Erfahrungen sammeln. Ich bin sehr gespannt, wie alles aufgebaut ist: Das Dorf, die ganzen Wettkampfstätten und wie das unter Pandemie-Bedingungen abläuft. Ich hoffe, dass es nicht allzu stressig wird, bin aber sehr glücklich, mitfahren zu können und das alles miterleben zu dürfen.“
Wer noch mehr über den Status quo 100 Tage vor Beginn der Paralympics wissen möchte: Dr. Karl Quade hat im Podcast von "Alles Para" ausführlich zu den Vorbereitungen des Team Deutschland Paralympics auf die Spiele in Tokio gesprochen. Hier geht's direkt zum Podcast.