Was für ein Auftakt bei der Para Leichtathletik-Europameisterschaft im polnischen Bydgoszcz: Markus Rehm fliegt zum Weltrekord, Francés Herrmann und Merle Menje schnappen sich Silber und Niko Kappel sowie Yannis Fischer stoßen die Kugel zur Bronzemedaille
Den einzigen Schreckmoment des Tages erlebte Markus Rehm hautnah: Dem Griechen Stylianos Malakopoulos brach bei der Landung die Prothese, Rehm lief noch vor seinem ersten Versuch zur Grube und erkundigte sich nach dem Wohlbefinden seines Konkurrenten. Aus der Ruhe ließ sich der zweifache Weitsprung-Paralympicssieger dadurch nicht bringen: Nach 8,19 Metern und 8,46 Metern – zwei Zentimeter kürzer als sein Weltrekord bei der EM 2018 – spürte Rehm, dass etwas Großes in der Luft lag: Mit 8,62 Metern verbesserte der 32-Jährige vom TSV Bayer 04 Leverkusen seinen Weltrekord um 14 Zentimeter und holte dadurch seinen vierten Europameister-Titel im Weitsprung.
„Es war eine tolle Stimmung und es hat viel Spaß gemacht. Ich bin perfekt aufs Brett gekommen und habe kaum was verschenkt, dann ein guter Absprung, eine gute Lage in der Luft – da kam alles zusammen heute“, sagte Rehm, der am 13. Mai schon 8,47 Meter gesprungen war: „8,62 Meter sind mehr, als ich mir erhofft hätte. Ich bin wahnsinnig glücklich und einfach happy, dass es so geklappt hat.“
Seit 2011 ist Rehm nun in paralympischen Weitsprung-Wettbewerben unbesiegt – was auch an seiner Trainerin Steffi Nerius liegt, wie er sagt: „Sie schafft es jedes Mal, mich zum Höhepunkt fit zu bekommen, dass ich da eine gute Mischung aus Fokussierung und Gelassenheit finde.“ Erstmalig sprang er auch weiter als der deutsche olympische Rekord von 8,54 Metern von Lutz Dombrowski aus dem Jahre 1980 – ein großes Ziel für Rehm: „Das stand auf meiner Bucket List, ich habe immer damit geliebäugelt. 30 Jahre hat das keiner geschafft, da ziehe ich meinen Hut vor und jetzt ist es mir gelungen. Das ist schon ein Zeichen an den olympischen Sport, um zu zeigen: Hey, wir bieten auch tolle Leistungen und brauchen uns nicht verstecken“, sagte Rehm, der im Sommer auch auf einen Start bei Olympia hofft: „Das wäre eine tolle Message für den paralympischen Sport. Ich würde gerne starten, um eine größere Plattform zu haben, so dass noch mehr Menschen den Para Sport kennenlernen und sehen, was alles möglich ist.“
Nach dem dritten Versuch und dem Weltrekordsprung wollte Rehm den Wettkampf eigentlich beenden, weil „die Luft raus war“ und er am Sonntag noch bei den Finals und den deutschen Meisterschaften in Braunschweig startet. Doch da die Ersatzprothese für Malakopoulos noch immer nicht da war, hoffte Rehm, ihm helfen zu können, dass der Medaillenkandidat doch noch springen und einen gültigen Versuch machen konnte: „Da wollte ich ihm Zeit verschaffen. Ich habe meine Uhr runterlaufen lassen und bin dann doch noch zum vierten Mal gesprungen. Er ist ein feiner Typ, aber leider hat es nicht geklappt, weil die falschen Teile gebracht wurden. Als paralympischer Sportler macht man sowas einfach und schaut, wie man anderen helfen kann“, sagte Rehm, der damit nicht nur Gold mit Weltrekord, sondern auch viele Sympathien gewonnen hatte.
Silber für Speerwerferin Herrmann und Rennrollstuhlfahrerin Menje
Schon am Vormittag hatte Speerwerferin Francés Herrmann Silber gewonnen – und die Normerfüllung für die Paralympics in Tokio bejubelt. Mit 17,16 Metern im letzten Versuch landete die 31-Jährige vom BPRSV wie schon bei den Europameisterschaften 2016 und 2018 auf Platz zwei – wenngleich mit anderen Voraussetzungen als zuvor. Schließlich kam erst vor etwas mehr als einem Jahr Sohn Henry zur Welt. „Es war wieder mal schön, einen richtigen Wettkampf zu haben“, sagte die Athletin von Ralf Paulo, die sich im Wettkampf kontinuierlich steigerte: „Ich konnte das, was ich aktuell drauf habe, sehr gut abrufen. Die Norm beruhigt mich ziemlich und daher bin ich gerade sehr zufrieden.“
Silber gewann auch EM-Debütantin Merle Menje. Die 16-Jährige vom Stadt-Turnverein Singen sprintete in ihrem Rennrollstuhl über die eigentlich ungeliebte 100-Meter-Distanz überraschend auf Platz zwei und ließ in 17,16 Sekunden erfahrene Top-Athletinnen hinter sich. „Ich bin sehr glücklich darüber. Ich bin gut wegekommen und es hat sich von Anfang an sehr gut angefühlt“, berichtete Menje, die im Winter auch im Para Ski Nordisch aktiv ist und in der Schweiz bei Paul Odermatt trainiert. Auf die junge Athletin warten in den kommenden Tagen noch die Distanzen von 400 bis 5000 Meter, „und da freue ich mich schon drauf.“
Bronze für Niko Kappel und Trainingskollege Yannis Fischer
Paralympics-Sieger Niko Kappel blieb auch im dritten Anlauf der ersehnte EM-Titel verwehrt: Mit 13,36 Metern im zweiten Versuch fehlten dem 26-Jährigen am Ende nur 15 Zentimeter zu Gold. Platz eins sicherte sich sein Dauerrivale Bartosz Tyszkowski aus Polen, Silber ging mit drei Zentimetern mehr als Kappel an den Briten Kyron Duke.
Für Kappel, der vor wenigen Wochen bei einem Wettkampf in Halle an einem rabenschwarzen Tag mehr als einen Meter kürzer gestoßen hatte, war es dennoch ein Schritt in die richtige Richtung: „Ich habe den Wettkampf eigentlich ganz gut begonnen. Da war mehr drin, weil es so knapp war und deshalb ist es irgendwie schade, dass es der dritte Platz ist, mit dem ich nicht ganz zufrieden bin“, sagte Kappel, der beim VfB Stuttgart und Peter Salzer trainiert: „So kann es aber weitergehen, jetzt werde ich das Training wieder aufnehmen und dann geht es für Tokio wieder richtig rund.“
Sein Trainer fand auch optimistische Worte in Richtung Paralympics. „Niko hat für mich eine kleine Wiederauferstehung gefeiert, er war schon auf dem Tiefpunkt nach dem Wettkampf in Halle, aber man hat schon im Training gemerkt, dass er sein altes Gefühl wiederfindet“, sagte Salzer, der noch eine zweite Bronzemedaille feiern durfte. Yannis Fischer trainiert wie Kappel bei Salzer und der 18 Jahre junge EM-Debütant stieß die Kugel mit 9,77 Metern überraschend zu Bronze – trotz Abi-Stress in den vergangenen Wochen. „Ich bin mega happy mit dem drittem Platz“, freute sich Fischer, der wie Menje für den Stadt-Turnverein Singen startet und sein Gefühlschaos schildert: „Zu Beginn sah es sehr schlecht aus, weil es anfing zu regnen. Das konnte ich aber überwinden und mein erster Stoß zur Saisonbestleistung hat den Kroaten dann wohl verunsichert, so dass es für Platz drei gereicht hat.“
„Es war ein mega Tag, ich hätte mir keinen besseren EM-Auftakt erträumen können“, betonte Bundestrainerin Marion Peters: „Fünf Medaillen bei fünf Starts, was will man mehr? Wir sind ein kleines Team, zusammengebastelt aus vielen neuen Leuten, aber es matcht.“ Die nächsten Medaillenchancen gibt es schon am Mittwochvormittag, wenn die Sprinterinnen Nicole Nicoleitzik und Janne Engeleiter über 200 und 100 Meter starten. Am Nachmittag sind dann Menje über 1500 Meter, Marcel Böttger im Weitsprung und Lindy Ave über 100 Meter an der Reihe.
Weitere Informationen und Ergebnisse rund um die Para Leichtathletik-EM gibt es unter www.paralympic.org/bydgoszcz-2021
Das deutsche Team für die EM:
Marcel Böttger (28 / BSG Bad Oeynhausen / Kassel), Alexander Kosenkow - Guide von Marcel Böttger (44 / TV Wattenscheid & BSG Bad Oeynhausen / Tokmak (Ukraine)), Felix Krüsemann (20 / RSV Eintrach Stahnsdorf / Berlin), Markus Rehm (32 / TSV Bayer 04 Leverkusen / Göppingen), Yannis Fischer (19 / StTV Singen / Singen), Niko Kappel (26 / VfB Stuttgart / Schwäbisch-Gmünd), Mathias-Uwe Schulze (37 / BPRSV e.V. / Magdeburg), Mathias Mester (34 / 1. FC Kaiserslautern / Münster), Janne Engeleiter (25 / BPRSV e.V. / Rathenow), Nicole Nicoleitzik (25 / TV Püttlingen / Saarlouis), Lindy Ave (22 / HSG Uni Greifswald / Neubrandenburg), Merle Menje (16 / StTV Singen / Mainz), Marie Brämer-Skowronek (30 / SC Magdeburg / Wolmirstedt), Frances Herrmann (31 / BPRSV e.V. / Cottbus), Martina Willing (61 / BPRSV e.V. / Pasewalk), Sebastian Dietz (36 / LAV Bünde & BSG Bad Oeynhausen / Worms).